Rezension: Die Vergessenen von Ellen Sandberg

Manolis Lefteris ist Autohändler und erledigt nebenbei besondere Aufträge. Als er geheimnisvolle Akten aufspüren soll, die sich im Besitz einer alten Dame befinden, hält er das für reine Routine. Er ahnt nicht, dass er im Begriff ist, ein Verbrechen aufzudecken, das Generationen überdauert hat. Ein Geheimnis, dem auch Vera Mändler auf der Spur ist. Die Journalistin entdeckt in der Wohnung ihrer Tante ein unbekanntes Bild, dass diese in Schwesterntracht und mit Hakenkreuzemblem zeigt, aufgenommen 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Winkelberg…

Irgendwo schlug der Wind einen Zweig gegen ein Fenster und Manolis hängte das Bild zurück an die Wand. Es war vorbei. Schon lange vorbei. Es spielte keine Rolle mehr.

Buchgedanken:

Ellen Sandberg verknüpft gekonnt historische Begebenheiten mit einem fiktivem Kriminalfall. Erzählt wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen, wordurch nicht nur die Verbrechen im dritten Reich, sondern auch die Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen bewußt werden. Ein spannender und erschütternder Roman um Recht, Gerechtigkeit und Schuld. Während Manolis an das Recht des Stärkeren glaubt und Gerechtigkeit um jeden Preis durchsetzt, ist Vera vorrangig auf der Suche nach einer brisanten Story und will die Wahrheit aufdecken. Kathrins Berufung und Gerechtigkeitssinn stehen im Konflikt zu ihren eigenen Bedürfnissen und der Angst um ihr Leben, ist sie anfangs noch recht naiv und ahnt nichts von den Verbrechen, die um sie herum geschehen, kann sie sich im weiteren Verlauf der Wahrheit nicht mehr verschließen und muss schwerwiegende Entscheidungen treffen.

Das Thema Euthanasie ist gut recherchiert, allerdings verliert sich die Handlung mitunter in Nebensächlichkeiten, die Figuren sind vielschichtig, aber nicht immer glaubwürdig, da ein tieferes Verständnis für ihre Beweggründe und Handlungen fehlt. Besonders Kathrins moralisches Dilemma ist nur bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, hätte sie doch zumindest nach Kriegsende handeln können, wie man es von einer starken Persönlichkeit trotz ihrer Unsicherheit erwartet hätte.

Fazit:

Alles in allem ein eindringlicher Roman, der nicht durchgehend zu fesseln vermag und streckenweise arg konstruiert daherkommt, aber spannende Fragen aufwirft und in Bezug auf ungesühnte Verbrechen nachdenklich stimmt.

© Penguin
Die Vergessenen ist ein Roman von Ellen Sandberg, aka Inge Löhnig, und 2017 im Penguin Verlag erschienen.
5

Im Rampenlicht: Antonio Tabucchi

© dtv Verlag

Antonio Tabucchi wurde 1943 in Vecchiano bei Pisa geboren und verstarb 2012 in Lissabon. Er studierte italienische Literatur in Paris und Pisa, spezialisierte sich auf portugiesische Literatur und war Professor für portugiesische Sprache und Literatur in Genua und Siena. Er fand über die Malerei und das Kino zum Erzählen, zu seinen bevorzugten Autoren zählten Joseph Conrad, Henry James und Gabriel García Márquez, sein großes Vorbild war Fernando Pessoa. Tabucchi arbeitete als Übersetzer, Kritiker und Essayist und wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem österreichischen Staatspreis für europäische Literatur.

 Werke (Auswahl) 
  • Piazza Italia, Roman 1975
  • Der kleine Gatsby, Erzählungen 1981
  • Indisches Nachtstück, Erzählung 1984
  • Der Rand des Horizonts, Roman 1986
  • Lissabonner Requiem, Roman 1991
  • Erklärt Pereira, Roman 1994
 Merkmale 
  • minimalistischer Schreibstil
  • sorgfältige Auswahl an Details
  • Verweise auf eigene Texte
  • Filmzitate und Anspielungen auf fremde Texte
  • Spiel mit Klischees der Trivialliteratur
  • Mystifizierung und Verrätselung von Alltäglichem
 Zentrale Themen 
  • Selbstfindung auf Reisen und an fremden Orten
  • Identitätssuche und Selbsterkenntnis durch menschliche Begegnungen

Warum lesen? 

Tabucchi wollte seine Leser zum Nachdenken bringen, seine rätselhaften Texte sprechen die Neugierde des Lesers an und lassen eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten zu. So wird das Lesen zur literarischen Spurensuche, einiges wird angedeutet, manches verschwiegen, anderes mystifiziert und wer genau hinschaut, entdeckt eine Fülle an Verweisen auf Kunst, Literatur und Film.

Pflichtlektüre ist sein bekanntester Roman Erklärt Pereira, der mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt wurde: Der bisher unpolitische Kulturjournalist Pereira gerät 1938 in die Mühlen der portugiesischen Diktatur. Denn er versteckt einen Widerstandskämpfer und ist zwischen Widerstreben und Anteilsnahme hin und her gerissen. Pereira erwacht aus seiner Lethargie und folgt seinem Gewissen…

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß wir nicht eine einzige Persönlichkeit besitzen, wir haben viele Persönlichkeiten, die unter der Vorherrschaft eines hegemonischen Ichs nebeneinander existieren.

Mein Lieblingsbuch ist Der Rand des Horizonts, ein rätselhafter und atmosphärischer Pseudokriminalroman mit vielen Anspielungen auf Gangsterfilme: In der Leichenhalle wird ein junger Mann eingeliefert, der bei einer Hausdurchsuchung erschossen wurde. Spino, der gescheiterte Medizinstudent und Amateurdetektiv, macht sich auf die Suche nach seiner Identität…

Und ihm war, als ob auch die Sterne müde wären und er verspürte den Wunsch, es würde für alles, was existiert, eine Ausnahme geben, wie einen Aufschub oder ein Vergessen.

♥ Mila

5

Gedankenreise: Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden

Liebe Buchträumer,

was wäre, wenn…? Genki Kawamura wirft in seinem Roman die spannende Frage auf, was es braucht, um ein erfülltes Leben zu führen: Ein junger Briefträger erfährt, dass er an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt ist und bald sterben wird. Zuhause erwartet ihn der Teufel in Gestalt seines Doppelgängers und bietet ihm einen Handel an. Für jeden Tag, den er weiterleben möchte, muss eine Sache von der Welt verschwinden. Was, entscheidet der Teufel. Der Briefträger lässt sich auf den Pakt ein, doch was ist er wirklich bereit für sein Leben zu opfern?

Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden ist eine originelle, melancholische und tiefgründige Geschichte, die dazu einlädt, das eigene Leben zu überdenken. Was zählt wirklich im Leben, wie wichtig sind Familie und Freunde und braucht es all die modernen Errungenschaften zum Glück? Eine poetische Sinnsuche, teils heiter, teils wehmütig, die manchmal zu sehr an der Oberfläche bleibt, aber dennoch anschaulich vor Augen führt, dass es nicht von Bedeutung ist, wie lange man lebt, sondern es darauf ankommt, das Leben auszukosten und den Augenblick wertzuschätzen.

Ein inspirierender Roman mit Herz, Humor und Katze.

Ihr Menschen glaubt, ihr seht die Welt, wie sie ist. Aber da irrt ihr euch gewaltig. Ihr stellt Definitionen auf und seht sie dann so, wie es euch passt.

© C. Bertelsmann Verlag
Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden ist ein Roman von Genki Kawamura, übersetzt von Ursula Gräfe und 2018 im C. Bertelsmann Verlag erschienen.
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